Wenn die Tochter mit Gesichtsverschleierung nach Hause kommt
Wie soll die Soziale Arbeit mit dem extremistischen Salafismus umgehen? Welche Handlungsstrategien gibt es? Das diskutierten Fachkräfte und Forscher*innen an der Uni Siegen.
Ein Vater und eine Mutter sitzen bei einer
Sozialarbeiterin in der Beratung und suchen Rat. Ihr Kind
ist stark von der salafistischen Szene fasziniert. Ein Fall
für den Verfassungs- oder Staatsschutz? „Nein“, sagt Saloua
Mohammed. „Wir Sozialarbeiter*innen sind auch für diesen
Themenbereich ausgebildet und verfügen über ein großes
Repertoire an Methoden und Ansätzen im Umgang mit
Jugendlichen, die sich für den Salafismus interessieren
oder bereits in salafistischen Szenen aktiv sind.“ Saloua
Mohammed kommt aus der Praxis. Sie ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der TH Köln und arbeitet außerdem als
Migrationsberaterin für erwachsene Flüchtlinge. Seit über
15 Jahren engagiert sie sich im Bereich der
Salafismusprävention. An der Universität Siegen hielt sie
gemeinsam mit dem Islamwissenschaftler Dr. Mehdi Sajid von
der Uni Osnabrück einen Vortrag darüber, wie die
Islamwissenschaft und die Soziale Arbeit in Theorie und
Praxis zusammenarbeiten können, um dem extremistischen
Salafismus zu begegnen. Eingeladen hatten Prof. Dr. Thomas
Coelen vom Department Erziehungswissenschaft &
Psychologie der Universität Siegen und Annette Utsch,
Sozialarbeiterin des Caritasverbandes Rhein-Wied-Sieg e. V.
„Viele Sozialarbeiter*innen haben Angst, mit Themen wie dem
extremistischen Salafismus in Kontakt zu kommen“, erzählt
Mohammed. „Sie denken, dass sie sich mit Religion auskennen
müssen, um mitreden zu können. Aber das stimmt nicht.“
Vielfach gehe es gar nicht primär um den Islam, sondern um
die Suche nach Sinn, Identität, Zugehörigkeit oder anderen
Herausforderungen, die oftmals durch biografische Brüche
verschärft werden. Jugendliche und junge Erwachsene könnten
sich durch viele Ursachen dem extremistischen Salafismus
zuwenden, zum Beispiel, wenn sie durch Religion Halt suchen
oder gegen vorhandene Familienstrukturen oder
gesellschaftliche Vorstellungen rebellieren wollen.
„Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter kommt plötzlich im
Niqab nach Hause, also einer kompletten
Gesichtsverschleierung“, beschreibt Mohammed. „Glauben Sie
mir, da fallen nicht nur deutsch-deutsche Eltern, sondern
auch viele muslimische Familien mit Migrationshintergrund
vom Stuhl."
Das grundlegend Gefährliche am extremistischen Salafismus
sei der Anspruch, den Koran wörtlich auszulegen, ohne den
Kontext und andere Quellen zu berücksichtigen, erklärt Dr.
Mehdi Sajid, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Zentrum für Islamische Theologie der Universität Osnabrück
tätig ist. Der traditionelle Islam lasse eine Vielzahl von
Interpretationen der Heiligen Schrift zu, die Extremisten
hingegen würden vorgeben, die Verfechter des ‚wahren‘ und
‚reinen‘ Islam zu sein. Sie würden jeden ablehnen, der
anders gesinnt ist. „Sie halten sich für die einzig Wahren
und grenzen alle anderen Muslime aus, die ihre Ansichten
nicht vertreten und bezichtigen sie des Unglaubens“, fasst
Sajid die Logik der Salafisten zusammen.
Salafistische Gruppierungen missionieren sowohl
innermuslimisch als auch in der breiteren Gesellschaft,
erklärt Dr. Sajid. Der Umgang mit dem Salafismus – auch in
seiner extremistischen Form – sei also eine
gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Dabei käme vor
allem der Sozialen Arbeit eine durchaus wichtige Rolle zu.
Die Soziale Arbeit könne durch die Vernetzung mit der
Islamwissenschaft und anderen Disziplinen gewinnbringende
Erkenntnisse hervorbringen – vor allem für die Praxis. „Die
Islamwissenschaft kann beim Umgang mit Salafismus und
salafistischen Tendenzen helfen, weil Fachkräfte das
Phänomen geschichtlich und fundiert einschätzen können“,
sagt Sajid. Aber ab einem gewissen Punkt stoße die
Islamwissenschaft an Grenzen. „Wir
Islamwissenschaftler*innen sind nicht für die
Beratungspraxis ausgebildet worden. Das muss verständlich
gemacht werden. Unserer Arbeit liegt darin,
historisch-philosophische Zusammenhänge und Muster zu
erkennen, nicht jedoch sozialpädagogische Arbeit mit
Einzelnen zu betreiben.“
Saloua Mohammed betont, dass sich die Soziale Arbeit nicht
nur in der Praxis, sondern verstärkt auch in der Forschung
dem Thema Salafismus widmen müsse. An einigen Unis gäbe es
bereits Forschung zu sozialpädagogischen Perspektiven und
Analysen, darunter an den Universitäten Siegen und
Bielefeld. Größtenteils mangele es aber an solcher
Forschung. Dadurch würden relevante Aspekte untergehen, die
zum Verständnis von salafistisch geprägten Biografien und
individuellen Radikalisierungsprozessen beitragen würden.
Mohammed plädiert dafür, sich stärker mit Themen wie
gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Extremismen,
Rassismus und Diskriminierung in der Ausbildung von
angehenden Fachkräften auseinanderzusetzen. Fachkräfte
müssten intensiver gestärkt werden, ihren
gesellschaftlichen Auftrag als Menschenrechtsprofession
kritisch und reflexiv erfüllen zu können. Das wiederum
gelinge nur, wenn sich die Soziale Arbeit klar zu
schwierigen Themen, wie dem Salafismus, positionieren
würde.